Ein Seiltänzer und die Europäische Zentralbank (EZB) haben derzeit viel gemeinsam. Allerdings ist der Seiltänzer deutlich besser dran – warum das so ist und wie Anleger einen Absturz vermeiden, erklärt Jörg Wiechmann, Geschäftsführer im Itzehoer Aktien Club (IAC).
Gerade hat die EZB den Leitzins auf zwei Prozent deutlich angehoben. „Das hört sich nach jahrelanger Negativzins-Politik fast schon wieder passabel an“, so Wiechmann. Ist es aber nicht: Angesichts von rund zehn Prozent Inflation beträgt der Realzins aktuell rund minus acht Prozent. „Um so viel werden Sparer also nach wie vor Jahr für Jahr ärmer, wenn sie ihr sauer Erspartes zu zwei Prozent auf dem Zinskonto parken.“
Eigentlich müsse die EZB die Zinsen über die Inflationsrate hinaus anheben, erklärt der IAC-Geschäftsführer. Doch das sei utopisch angesichts der Berge an Staatsschulden im Euro-Raum. So ähnele die EZB einem Seiltänzer, der in die eine oder andere Richtung abzustürzen droht: Erhöhe sie die Zinsen zu wenig, vernichte die Inflation weiter den Wert des Geldes. Eine zu starke Zinserhöhung dagegen belaste die angesichts der Energiekrise ohnehin angeschlagene Konjunktur. „Es droht der Absturz Richtung Rezession samt Millionen Arbeitslosen und Tausenden Firmenpleiten“, sagt Wiechmann. Seiltänzer könnten zu einer Balance-Stange als Hilfe greifen, die Zentralbank aber nicht mehr: „Die haben Notenbank und Regierungen bereits vor Jahren leichtfertig aus der Hand gegeben, als sie sich von den Geboten solider Geldpolitik und Einhaltung der Stabilitätskriterien verabschiedet haben.“
Die Folge für Anleger: Mit Zinsanlagen spare man sich so lange arm, wie die Zinsen unterhalb der Inflationsrate liegen, betont Wiechmann. Schutz böten nur Sachanlagen, allen voran Aktien. Denn für Unternehmen stiegen zwar die Lohn- und Rohstoffkosten, aber dank Inflation könnten sie auch ihre Preise anheben – bei stabiler Marge steige also der Gewinn.
So sei es für Aktionäre langfristig kein Risiko, wenn die EZB bei ihrem Seiltanz in Richtung Inflation abstürze. Anders sieht es aus, wenn die Zentralbank die Zinsen stark erhöht: „Das würde den Firmen einen Nachfrage- und Gewinneinbruch bescheren und könnte die bereits deutlich gefallenen Börsenkurse nochmals temporär belasten“, sagt der IAC-Geschäftsführer. Langfrist-Investoren könnten das aber aussitzen. Und wer bei seinem Einstieg an der Börse beiden Risiken Rechnung tragen wolle, könne sein geplantes Investment aufteilen: statt einer Einmalanlage beispielsweise über zwölf Monate verteilt. Wiechmann: „So wäre sicher gestellt, dass auch im Rezessionsszenario mit kurzzeitig weiter fallenden Börsenkursen ein günstiger Einstieg erfolgt.“
PM/ Nils Petersen